Prof. Dr. Günter Stüttgen - "the german doctor"
Es ist Dienstag der 7. November 1944 als die amerikanischen Soldaten den Abhang von Vossenack herunter zur Mestrengermühle, dort über die Kall, wieder hinauf nach Kommerscheid und dann weiter nach Schmidt zur Rurtalsperre wollen. Es ist ein Kampf Mann gegen Mann, so umschreiben Militärhistoriker was in diesen Tagen hier an dieser Stelle im Kalltal zwischen den Dörfern Vossenack und Schmidt passiert. Die Front verschiebt sich täglich, zuweilen stündlich, aber immer nur wenige Hundert Meter. An manchen Tagen gibt es mehr als 200 Verletzte auf beiden Seiten, sie wälzen sich auf den Wiesen, wimmern im kleinen Bachbett der Kall, schreien um Hilfe aus den Schützenlöchern, die hier wegen des steinigen Bodens viel zu flach sind, um wirklich Schutz zu bieten.
Nicht nur militärisch verschwimmt die Front, auch menschlich. "Die Amerikaner waren völlig demoralisiert." Sie fühlen sich von ihren Befehlshabern allein gelassen. Dieser Wald - ein dunkler, deutscher Albtraum. Viele sterben im "friendly fire" der eigenen Artillerie. Von den Bäumen prallen die Schrapnelle ab. Die Deutschen feuern aus gut getarnten Positionen, die immer erst entdeckt werden, wenn sie das Feuer eröffnen. Amerikanische Militärexperten werten heute den "Huertgenwald Battle" als erste "Waldkampferfahrung" der US Army, als vorgezogenes Vietnam, als verpasste Chance, als das Symbol des größten militärischen Versagens der USA.
In diesem blutigen Durcheinander arbeitet der deutsche 25 jährige Militärarzt Günter Stüttgen. Erst ein Jahr zuvor legte er, nach seinem Studium in Marburg, Frankfurt und Düsseldorf, sein Staatsexamen ab.
An diesem 7. November kommt es zum ersten, vorsichtigen Kontakt von Sanitätspersonal: Die Amerikaner haben gehört, die Deutschen ließen die Bergung ihrer Verwundeten zu und stellten das Feuer dafür ein. Sie testen es. Drei Sanitäter nähern sich unbewaffnet den deutschen Linien, wollen sie kurz überschreiten, um im Waldstück dort drüben verwundete GIs zu versorgen. Ein deutscher Posten greift sie auf, er spricht kein Wort Englisch. Sie bieten ihm Zigaretten an. "Dann ging es". Günter Stüttgen zählt die damals begehrtesten Währungen auf: Zigaretten für die Deutschen, Kommissbrot für die Amis.
Einen Waffenstillstand ersehnen beide. Dieser erste Kontakt findet direkt vor dem Lauf eines eingegrabenen schweren deutschen MGs des 1056. Infanterieregiments statt. Freies Geleit, mehr ist es vorerst nicht, aber in diesem von Granaten aufgewühlten Kalltal eine Sensation.
So beginnt das "Wunder vom Hürtgenwald", wie es heute von amerikanischen Veteranen genannt wird: Günter Stüttgen und ein Sanitäter, beide mit dem Zeichen vom Roten Kreuz, nähern sich unbewaffnet den amerikanischen Linien und laden einen amerikanischen Einheitsführer in ihren Gefechtsstand ein. Mit verbundenen Augen wird er in die Mestrenger Mühle geführt, von der aus die deutsche Seite die Kämpfe im Tal leitet. In den folgenden Tagen gelingt es Stüttgen drei Mal, einen mehrstündigen Waffenstillstand auszuhandeln. Gedeckt von seinem Regimentskommandeur, Oberst Rösler, ermöglicht er, dass Hunderte von Verwundeten und Gefangenen über die Linien hinweg ausgetauscht und verpflegt werden. Deutsche Sanitäter bergen Amerikaner, tragen sie bis weit in ihre Etappe. Günter Stüttgen betreibt seinen Sanitätsbunker für einige Tage sogar zusammen mit amerikanischen Sanitätssoldaten, die ihm zur Hand gehen.
Günter Stüttgen (* 23. Januar 1919 in Düsseldorf; † 21. Oktober 2003 in Berlin) war Dermatologe und leitete von 1968 bis 1988 als Ordinarius und Chefarzt die Universitäts-Hautklinik und Poliklinik der Freien Universität Berlin im Rudolf-Virchow-Krankenhaus im Berliner Stadtteil Wedding. Zuvor war er leitender Oberarzt der Hautklinik der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Nachdem er sein Medizinstudium in Freiburg, Marburg und Düsseldorf absolviert hatte, wurde er schon 1951, allein unter Anerkennung seiner bis dahin publizierten Arbeiten und ohne Habilitationsschrift für die Fächer Dermatologie und Venerologie habilitiert.[1] Im Jahre 1957 erhielt er eine außerordentliche Professur. Stüttgen forschte insbesondere im Bereich der Penetrationskinetik von Substanzen durch die Haut. Insbesondere ist sein Name verbunden mit der Anwendung von Vitamin-A bzw. der Retinoiden in der Dermatologie. Günter Stüttgen war darüber hinaus Mitglied der Arzneimittelkommission A des früheren Bundesgesundheitsamtes, welche nach der Thalidomid-Katastrophe (Contergan) gegründet wurde.
Das „Wunder vom Hürtgenwald“
Internationale Berühmtheit erlangte Günter Stüttgen insbesondere durch seine Tätigkeit als Hauptmann und Truppenarzt bei der Allerseelenschlacht vom 4. bis 12. November 1944, einer der drei Teilschlachten der Schlacht im Hürtgenwald, der längsten Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden, bei der insgesamt 64.000 Kriegstote beider Seiten gezählt wurden. Der schon damals mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnete Arzt behandelte – verbotenerweise – auch amerikanische Kriegsverwundete in seinem Sanitätsstützpunkt. Am 7. November 1944 kam es zu ersten, direkten Kontakten mit amerikanischem Sanitätspersonal, und es gelang Stüttgen insgesamt dreimal, unter Rückendeckung des Regimentskommandeurs Oberst Rösler mehrstündige Kampfpausen auszuhandeln, in denen beide Seiten ihre Verwundeten bergen konnten und versorgte Patienten gegenseitig ausgetauscht wurden. Zeitweise arbeitete er in seinem Sanitätsunterstand mit amerikanischem Sanitätspersonal zusammen. Hunderte von Soldaten beider Seiten verdankten dem engagierten Einsatz von Günter Stüttgen ihr Leben. „Wir hatten Respekt voreinander“, erklärte Günter Stüttgen in einem Interview in der Welt vom 23. Juni 2001[2], „Respekt, den nur Soldaten voreinander haben können, die den Schrecken des Krieges kennen.“
Gegen Kriegsende übergab Günter Stüttgen ein an einem anderen Kampfabschnitt gelegenes ganzes Lazarett kampflos in die Hand der anrückenden Alliierten und wurde dafür in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Fast 50 Jahre lang waren die außerordentlichen Vorgänge im Hürtgenwald in Vergessenheit geraten. Zu Beginn der 1990er Jahre weckten die zahlreichen Schilderungen amerikanischer Kriegsteilnehmer über das „Miracle of Hurtgen Forest“ und den „German doctor“ das Interesse amerikanischer Militärhistoriker. Zusammen mit aktiven Angehörigen der 28. US-Infanteriedivision machten sie sich auf die Suche und identifizierten 1996 Günter Stüttgen als den gesuchten „German doctor“.
Für seinen Akt der Humanität gegenüber dem Feind wurde Günter Stüttgen am 12. November 1996 im Rahmen eines Festakts im Capitol in Harrisburg mit der höchsten militärischen Auszeichnung der amerikanischen Streitkräfte für Ausländer geehrt. Darüber hinaus wurde das Ereignis in einer Ehrenurkunde und einem Gemälde mit dem Titel A Time for Healing festgehalten. Das Original hängt heute im Museum der Nationalgarde. Eine Kopie des Gemäldes sowie der Ehrenurkunde befindet sich im Friedensmuseum in Vossenack.
Eine Gedenkskulptur aus Dolomit des Vettweißer Bildhauers Michael Pohlmann mit dem Namen A Time for Healing, wurde am 7. November 2004 in der Mitte der Kallbrücke aufgestellt. Es zeigt eine roh behauene, ringförmige Scheibe die durch eine glatt polierte Welle durchdrungen wird. Der Künstler selbst interpretierte es als das raue Umfeld in dem die humanitäre Begegnung stattfindet. Eine deutsch und englischsprachige Infotafel des Künstlers Tillmann Schmitten mit den Hintergründen zu den Ereignissen während der Allerseelenschlacht wurde im September 2005 aufgestellt.
Auszug aus der Rede anlässlich der Gedenkfeier 60 Jahre Kämpfe im Hürtgenwald und Einweihung der Gedenkskulptur am 7. November 2004 von John A. Brogan III, US-Generalkonsul a.D.[3]:
„Unmöglich rationale Worte zu finden, um das ungestüme Töten, das tobende Auslöschen von Leben zu beschreiben. Es ist ein gottverlassenes Fleckchen deutscher Erde, erfüllt vom Nachhall berstender Explosionen. Erfüllt auch vom Widerhall von Todesschreien und gebadet in Blut. Und dann, im Moment größter Not, in der dunkelsten Stunde, dann wenn nur noch Verzweiflung herrscht, zeigt sich, dass dieser Ort größter Misere nicht von Gott verlassen ist. Denn jetzt geschieht ein unfassbares Wunder. [..] Sechzig Jahre sind es her und an diesem Tag betritt ein nobler und heldenhafter deutscher Militärarzt mit seinen Sanitätern langsam das Schlachtfeld. Hauptmann Günther Stüttgen traut sich hervor, um die Toten zu bergen und den Verletzten zu helfen. Und zwar ohne zu unterscheiden, ob amerikanisch oder deutsch und erwirkt ein De-facto-Waffenstillstand, der den Tod für drei unvergessliche Tage besiegt. [..] Der Mut und sein Anstand werden immer geehrt werden - nicht nur dann, wenn ehemalige Soldaten, die hier kämpften, sich treffen. Auch für uns Amerikaner ist Hauptmann Stüttgen, sowohl Vorbild wie auch Sinnbild des Helden.“
Günter Stüttgen ist neben Friedrich Lengfeld der zweite deutsche Soldat und Teilnehmer der Schlacht im Hürtgenwald, der von seinen ehemaligen Gegnern geehrt wurde.
Die Günter-Stüttgen-Medaille
Anlässlich der Feier zum 80. Geburtstag von Günter Stüttgen (Januar 1999) stiftete die älteste Fachvereinigung deutscher Dermatologen, die Berliner Dermatologische Gesellschaft (BDG), die „Günter-Stüttgen-Medaille“.
Auszug aus der Satzung der BDG[4]: „Die Günter-Stüttgen-Medaille für herausragende wissenschaftliche Verdienste in der Dermatologie stellt die höchste Auszeichnung dar, die von der Berliner Dermatologischen Gesellschaft verliehen wird. Mit der Günter-Stüttgen-Medaille soll das überragende Lebenswerk eines/r international renommierten Dermatologen/in oder Arzt/Ärztin eines medizinischen oder naturwissenschaftlichen Fachgebietes geehrt werden, der/die für die Dermatologie relevante, grundlegende Erkenntnisse gewonnen oder wesentliche therapeutische Fortschritte auf dem Gebiet der Dermatologie möglich gemacht hat. Die Günter-Stüttgen-Medaille wird erstmals im Jahr 2000 und danach aus gegebenem Anlass, jedoch nicht häufiger als alle 2 Jahre verliehen. Der Vorstand der Berliner Dermatologischen Gesellschaft bestimmt jeweils den Zeitpunkt für eine weitere Vergabe der Günter-Stüttgen-Medaille. Die Günter-Stüttgen-Medaille kann jeweils nur an einen Preisträger/in vergeben werden und ist nicht mit einer finanziellen Zuwendung verbunden“
Link zum Wickipedia-Eintrag
Eifel - In den USA ist er ein „hero“, ein Held. In Deutschland ist seine Geschichte weitgehend unbekannt: Der Arzt Günter Stüttgen bewahrte 1944 in der Schlacht im Hürtgenwald Hunderte von verwundeten deutschen und amerikanischen Soldaten vor dem Tod. Jetzt tat der emeritierte Professor an der Berliner Charité selbst seinen letzten Atemzug. Stüttgen starb wenige Wochen, nachdem er im Herbst noch einmal an den Schauplatz jener Schlacht zurückgekehrt war, bei der er sich vor allem bei seinen früheren Feinden Respekt und Hochachtung erwarb.
Mit 84 Jahren hatte der Mediziner noch einmal die Reise von Berlin in die Eifel auf sich genommen. Begleitet wurde er von US-Soldaten, die in Europa stationiert sind. Und von dem Brigadegeneral a.D. Andreas Broicher, dem Vorsitzenden des Zülpicher Geschichtsvereins. Für die Pläne der Bundesvermögensverwaltung, die Reste der Westwall-Höckerlinie samt Bunkern dem Erdboden gleichzumachen, hätte Stüttgen ebenso wenig Verständnis gehabt wie Broicher sowie die „Feinde“ von früher und deren Nachfahren. Broicher organisiert seit rund 20 Jahren Führungen deutscher und amerikanischer Offiziere durch den Hürtgenwald: „Soweit sie noch leben, kommen die amerikanischen Veteranen fast jedes Jahr.“ Auch für die in Europa stationierten US-Soldaten sei ein Besuch im Hürtgenwald ein „Muss“.
Am 7. November 1944 begannen jene dramatischen Tage, aus denen sich die blutigste deutsch-amerikanischen Schlacht des Zweiten Weltkriegs entwickeln sollte: Die alliierte Offensive hauptsächlich amerikanischer Truppen, die von Belgien aus in Richtung Rhein vorstoßen, bricht am nördlichen Teil des „Westwalls“ in sich zusammen. In Schnee und Matsch kommt der Vormarsch zum Erliegen. Gut ausgerüstete deutsche Soldaten liegen in Hunderten von Bunkern und Stellungen und bilden einen 40 Kilometer langen Sperrriegel. Was sich in den darauf folgenden Wochen im Hürtgenwald ereignet, beschreiben Militärhistoriker als „Kampf Mann gegen Mann“. Bis die Alliierten im Februar 1945 doch noch den Durchbruch schaffen, sterben in diesem Abschnitt der Eifel 13 000 Deutsche und 55 000 Amerikaner. Allein in dem als „Allerseelen-Schlacht“ in die Historie eingegangenen Gemetzel vom 2. bis zum 9. November verliert das 28. US-Infanterieregiment 4500 Mann. Deutsche und Amerikaner leiden und sterben dicht nebeneinander. „Für die Amerikaner ist jeder, der das durchgestanden hat, ein Held“, so Broicher. Der Brigadegeneral a.D. ist ein entschiedener Gegner der Pläne der Bundesvermögensverwaltung, die Bunker aus angeblich sicherheitstechnischen Gründen einzureißen. Die Höckerlinie sei schließlich kein Denkmal für das verbrecherische Nazi-Regime. Vielmehr nehme man den früheren Feinden und heutigen Freunden die Gedenkstätte für ihre Väter und Großväter, die bei der Schlacht unter grauenvollen Umständen ihr Leben lassen mussten.
Es wären noch einige hundert mehr gewesen, wenn der damalige Truppenarzt Günter Stüttgen nicht das erreicht hätte, was US-Veteranen später als „Wunder vom Hürtgenwald“ bezeichneten. Der Arzt machte keinerlei Unterschiede zwischen Freund und Feind. Ihm gelang es, mehrstündige Waffenstillstände auszuhandeln.
Mit dem Feind im Bunker
Hunderte von verwundeten und gefangenen Soldaten wurden über die verfeindeten Linien hinweg ausgetauscht, behandelt und verpflegt. Deutsche bargen Amerikaner und trugen sie zurück bis weit in die Etappe. Zeitweise betrieb Stüttgen seinen Sanitätsbunker sogar gemeinsam mit US-Sanitätssoldaten. Was Stüttgen 50 Jahre für sich behielt. Amerikanische Militärhistoriker begannen Anfang der 90er Jahre damit, nach jenem geheimnisvollen „german doctor“ zu suchen. Mit Erfolg: Stüttgen wurde 1996 in einer Feierstunde der Nationalgarde geehrt. In Deutschland nahm davon kaum jemand Notiz. Andreas Broicher schon. Dem Bundeswehr-General a.D. war es vergönnt, dem Mann zweimal zu begegnen, der tiefen Eindruck auf ihn machte: „Stüttgen war ein außergewöhnlicher Mensch.“
Der Arzt sollte es nicht mehr miterleben, dass die Bundesvermögensverwaltung die Bunker flächendeckend sprengt. Denn dadurch würden mit Sicherheit die sterblichen Überreste Hunderter gefallener Soldaten gleich mit in die Luft gejagt. Immer noch werden in der Eifel die Gebeine von Kriegsopfern entdeckt. Broicher. „Eine Nation erkennt man daran, wie sie nach einem verlorenen Krieg mit den Toten umgeht.“
Kölner Stadt-Anzeiger - > Link zum Text
Geschrieben von Guido Heinen - DIE WELT 23.06.2001
In den USA gilt er als Held, bei uns ist seine Geschichte unbekannt. Der Arzt Dr. Günter Stüttgen rettete im November 1944 Hunderten von verwundeten deutschen und amerikanischen Soldaten das Leben
Der Wald sieht so anders aus." Günter Stüttgen blinzelt den steilen Hang hinauf in die Sonne. "Aber hier. Hier kamen sie zum ersten Mal raus." Ganz ruhig steht er da, die Karte in der Hand, mitten auf der löwenzahngelben Wiese. Er entschuldigt sich: "Es kommen nur einzelne Szenen in die Erinnerung, nichts Zusammenhängendes. Bis zu diesem Tag kannten wir die Amis nur als Feinde."
Dieser Tag. Es ist der 7. November 1944, und es ist hier im Wald in der Nähe des Städtchens Vossenack. An diesem Tag nimmt das "Wunder vom Hürtgenwald" seinen Anfang. Aus Berlin propagiert Adolf Hitler den Kampf bis zum letzten Mann und fordert, die Soldaten "bis aufs Äußerste zu fanatisieren", hier tut der Regimentsarzt Stüttgen, "was ein Arzt tun musste". In der blutigsten deutsch-amerikanischen Schlacht des Krieges rettet er Hunderten von verwundeten deutschen und amerikanischen Soldaten das Leben und erspart ihnen die Gefangenschaft.
In jenen dramatischen Tagen bricht die alliierte Offensive hauptsächlich amerikanischer Truppen, die von Belgien aus Richtung Rhein vorstoßen, am nördlichen Teil des "Westwalls" in sich zusammen. Festgefahren in Schnee und Matsch, eingeklemmt zwischen gestürzten Bäumen, die Fahrzeuge verkeilt in schmalen Waldwegen, kommt der Vormarsch zum Erliegen. Gut ausgerüstete, in Hunderten Bunkern und ausgebauten Stellungen eingegrabene deutsche Soldaten bilden einen fast 40 Kilometer langen Sperrriegel. Die Truppen beider Seiten haben sich regelrecht festgefressen in den Abhängen.
"Kampf Mann gegen Mann" umschreiben Militärhistoriker, was in diesen Wochen im Hürtgenwald passiert. "An manchen Tagen hatten wir mehr als 200 Verletzte, viele Tote, allein in meinem Abschnitt", erinnert sich Stüttgen. Sie wälzen sich auf den Wiesen, wimmern in dem kleinen Bachbett, schreien um Hilfe aus Schützenlöchern, die hier wegen des steinigen Bodens viel zu flach sind, um wirklich Schutz zu bieten. Deutsche wie Amerikaner liegen und leiden und sterben dicht nebeneinander. 12 000 Deutsche sterben hier und 55 000 Amerikaner.
Ein unschuldiger Sommertag mehr als 56 Jahre danach. Da ist das enge Tal, das Bächlein Kall fließt wie damals, die klaustrophobisch abfallenden, dicht bewaldeten Hügel. Stüttgen war damals 25. "Vom Steilhang da drüben sahen wir nur die Feuerstöße der Maschinengewehre." Das Blecken des Mündungsfeuers, ab und zu ein Schatten, der von einem Erdloch zum anderen rennt. Auf dem schmalen Weg ins Tal ausgebrannte amerikanische Panzerfahrzeuge, die der Befehlshaber über steile Wege hinabgeschickt hatte ins Verderben, direkt vor die deutschen Panzerfäuste.
"Mutig war, wer sich an den Panzer heranrobbte, hinten aufsprang, Klappe auf, und die Handgranate rein", erinnert sich Stüttgen. Dafür ziehen die Deutschen ihre Wehrmachtsstiefel aus und Turnschuhe an, um flinker zu sein. Es ist kurz vor Allerseelen. An diesem Feiertag im November wird der Seelen der Toten gedacht, die vor der Aufnahme in den Himmel durch das reinigende Fegfeuer müssen. "Allerseelenschlacht" sagen die Menschen hier noch heute.
"Eine glasklare Front gab es nicht." Stüttgens Aufgabe: erste Versorgung der vielen Verletzten, Transport weg von der Kampflinie zum Sanitätsbunker, erste Operationen, Amputationen, weiter zu den Verbandsplätzen. Irgendwann liegt der erste angeschossene Amerikaner vor ihm. Und - er versorgt ihn. "Natürlich." Natürlich war gar nichts. Was er tat, reichte für das Todesurteil. Nun ja, er habe das Rote Kreuz auf Brust, Arm und Helm "einfach ernst genommen".
Die Artillerie beider Seiten schleudert tonnenweise Granaten ins Kampfgebiet. Die deutschen Kanonen stehen an der Rurtalsperre, dem strategischen Ziel der Alliierten. Auch die amerikanischen Geschütze feuern, was die Rohre hergeben - aber oftmals ohne Orientierung. Ihre Granaten gehen auf Deutsche und Amerikaner gleichermaßen nieder. "Wir hatten so die Schnauze voll, auf beiden Seiten", erinnert sich Stüttgen.
Es ist eine Hölle aus Feuer und Tod, und sie ist tief eingegraben in das Bewusstsein der beiden Völker, Ernest Hemingway kämpfte auf amerikanischer Seite, Heinrich Böll auf der deutschen.
Die Front verschiebt sich täglich, zuweilen stündlich, aber immer nur wenige Hundert Meter. Das Dorf Vossenack wird an einem Tag drei Mal erobert und wieder verloren, die mächtige Kirche dient der jeweiligen Artillerie als Richtpunkt: Gehen die eigenen Truppen vor, wird ihnen eine Feuerwalze vorangeschickt, um die feindlichen Stellungen in die Deckung zu zwingen. Nach der Eroberung ist es dann umgekehrt. "In diesem Feuerregen saßen wir, Deutsche und Amis gemeinsam, in derselben Scheiße."
Nicht nur militärisch verschwimmt die Front, auch menschlich. "Die Amerikaner waren völlig demoralisiert." Sie fühlen sich von ihren Befehlshabern allein gelassen. Dieser Wald - ein dunkler, deutscher Albtraum. Viele sterben im "friendly fire" der eigenen Artillerie. Von den Bäumen prallen die Schrapnelle ab. Die Deutschen feuern aus gut getarnten Positionen, die immer erst entdeckt werden, wenn sie schon das Feuer eröffnen. Amerikanische Militärexperten werten heute den Huertgenwald Battle als erste "Waldkampferfahrung" der US Army, als vorgezogenes Vietnam, als verpasste Chance, als Symbol großen militärischen Versagens. "Oftmals standen wir ganz unvermittelt vor verirrten Amis, die sich dann gefangen nehmen ließen."
Am 7. November kommt es zum ersten, vorsichtigen Kontakt von Sanitätspersonal: Die Amerikaner haben gehört, die Deutschen ließen die Bergung ihrer Verwundeten zu und stellten dafür das Feuer dafür ein. Sie testen es. Drei Sanitäter nähern sich unbewaffnet den deutschen Linien, wollen sie kurz überschreiten, um im Waldstück dort drüben verwundete GIs zu versorgen. Ein deutscher Posten greift sie auf, er spricht kein Wort Englisch. Sie bieten ihm Zigaretten an. "Dann ging es". Günter Stüttgen zählt die damals begehrtesten Währungen auf: Zigaretten für die Deutschen, Kommissbrot für die Amis.
Einen Waffenstillstand ersehnen beide. Dieser erste Kontakt findet direkt vor dem Lauf eines eingegrabenen schweren deutschen MGs des 1056. Infanterieregiments statt. Freies Geleit, mehr ist es vorerst nicht, aber in diesem von Granaten aufgewühlten Tal eine Sensation.
So beginnt das "Wunder vom Hürtgenwald", wie es heute von amerikanischen Veteranen genannt wird: Stüttgen und ein Sanitäter, beide mit dem Zeichen vom Roten Kreuz, nähern sich unbewaffnet den amerikanischen Linien und laden einen amerikanischen Einheitsführer in ihren Gefechtsstand ein. Mit verbundenen Augen wird er in die Mestrenger Mühle geführt, von der aus die deutsche Seite die Kämpfe im Tal leitet. In den folgenden Tagen gelingt es Stüttgen drei Mal, einen mehrstündigen Waffenstillstand auszuhandeln. Gedeckt von seinem Regimentskommandeur, Oberst Rösler, ermöglicht er, dass Hunderte von Verwundeten und Gefangenen über die Linien hinweg ausgetauscht und verpflegt werden. Deutsche Sanitäter bergen Amerikaner, tragen sie bis weit in ihre Etappe. Stüttgen betreibt seinen Sanitätsbunker für einige Tage sogar zusammen mit amerikanischen Sanitätssoldaten, die ihm zur Hand gehen.
"Es war massive Fraternisierung im gemeinsamen unabwendbaren Schicksal", sagt er heute. Die Amerikaner schenken den Deutschen Zigaretten und Verbandsmaterial, die Deutschen revanchieren sich mit dem begehrten Kommissbrot, das ihre Feinde in sich hineinschlingen. Das Elend rührt die deutsche Seite. Einmal, bei der letzten Waffenstillstandsverhandlung, war auch Kompaniechef Heinz Münster dabei. Er beschreibt das Grauen auf der amerikanischen Seite des Tals: "Zwischen verlassenen und abgeschossenen Panzern lagen Verwundete und Gefallene von beiden Seiten. Freund und Feind hockten völlig durchnässt, ausgehungert und deprimiert in ihren Erdlöchern."
Nach Stüttgens Erinnerungen organisierten Sanitäter und Ärzte alles. "Das Rot-Kreuz-Zeichen wurde stets von allen Seiten respektiert. Im Prinzip war also der Zustand des Waffenstillstands eine medizinische Angelegenheit unter dem Roten Kreuz." Er ist bis heute, bis ins Alter von 82 Jahren, Arzt geblieben. Nach dem Krieg beendete er seine Ausbildung, wurde Facharzt für Dermatologie, arbeitete an der Universitätsklinik Düsseldorf und ab 1969 am Virchow-Klinikum in Berlin und als Lehrstuhlinhaber der Freien Universität - hoch angesehen.
"Wir hatten Respekt voreinander", erklärt er die außergewöhnlichen Vorgänge im Hürtgenwald. "Respekt, den nur Soldaten voreinander haben können, die den Schrecken des Krieges kennen." Stüttgen steht auf einem der wenigen Bunker, die es heute noch gibt. "Hier waren wir sicher", erinnert er sich, und man spürt noch die Erleichterung, die er empfand, wenn er damals nach geducktem Zickzacklauf von Loch zu Loch, einen Verwundeten mitziehend, endlich seinen Sanitätsbunker erreichte. "Hier kamen selbst die Sherman-Panzer nicht gegen an, aber der Krach da drin war fürchterlich, wenn die auf uns schossen." Er stößt mit dem Fuß ein Steinchen die Treppe hinab ins Dunkel des Betonkolosses.
Elastischen Schritts läuft er durch die Wiesen, auf denen vor 52 Jahren das Grauen lag. Die kleine Steinbrücke hier - wie oft erobert, verloren, wieder erobert? Doch, etwas hat sich verändert. Kein Baum hier ist älter als 50 Jahre. Nur langsam haben die Pflanzen die granatendurchpflügten Hänge zurückerobert. Unter dem grünen Baumdach immer wieder Trichter, Gräben, Erdwälle, Spuren der Kämpfe. "Der Wald ist so jung", murmelt Stüttgen. Jünger als er.
So leise und konzentriert, wie er jetzt die Stellen sucht, an denen er Krieg führte, so muss Stüttgen auch damals gewesen sein. Wenn abends die Nahkampfpäckchen verteilt wurden, Schokolade, Bananen, Aufputschmittel, um den Schrecken des Sturmangriffs am nächsten Morgen seelisch zu überstehen, ersäuften viele Landser ihre Angst in Schnaps und Bier. "Ich habe mich lieber körperlich fit gehalten", grinst der passionierte Läufer. Er redet nicht gern, nicht flüssig über seine Erlebnisse. Seine Erinnerungen hängen an Orten, an Grasnarben, Bäumen, Hügelketten: Hier kam der Ami raus, da oben war unser Bunker, diesen Hang haben wir erstürmen müssen.
Stüttgen, der aus dieser Gegend stammt, hat noch heute Mitleid mit den GIs, die im fremden Land gegen Verteidiger anrennen mussten. Hier, direkt vor den alten deutschen Städten Aachen und Köln, wo die Dörfer urdeutsche Namen tragen wie Gey, Silberscheidt oder Schmidt. Es könnten deutsche Familiennamen sein, Wesen mit uralter Geschichte, seit Jahrhunderten hier. Die Soldaten aus Pennsylvania fühlten sich hier fremd - und zugleich heimisch. "Nicht wenige sprachen Deutsch, hatten direkte deutsche Vorfahren", erinnert sich Stüttgen.
Es gibt eine Ehrenurkunde für ihn - und ein Gemälde. "A Time For Healing" heißt es. Es wurde ihm zu Ehren in Auftrag gegeben von seinen Feinden von damals, der 28. US-Infanteriedivision. Er und M. Bedford Davis, sein amerikanischer Feind und Waffenstillstandspartner haben Kopien 1120 Mal signiert. Stüttgen selbst besitzt ein einziges Exemplar. Er ist nicht eitel. An der Kopie, die im Hürtgenwald-Museum in Vossenack hängt, geht er schnell vorbei. Er will nicht daneben stehen, ebenso wenig wie neben den anderen Dokumenten und Fundstücken aus dieser Schlacht, in der über 240 000 Soldaten kämpften.
Irgendwann, in einem dieser dunklen, engen Hohlwege, wie einer auf dem Gemälde zu sehen ist, muss sie dann kommen, die Frage, die man sich kaum zu stellen getraut: Und, sind Sie ein Held? Stüttgen, der mit Nahkampfspange und Eisernem Kreuz dekorierte Arzt, der nie schwer verwundet wurde, der noch kurz vor Kriegsende an einem anderen Frontabschnitt ein ganzes Lazarett kampflos dem Feind übergab und dafür in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, blickt dann ganz streng. So, als analysiere er eine erkrankte Hautstelle. "Nein, wir haben getan, was wir tun mussten." Und wenn er "wir" sagt, meint er auch seine Freunde auf der amerikanischen Seite.
Günter Stüttgen hat das "Wunder vom Hürtgenwald" fast 50 Jahre lang für sich behalten. Bis heute ist es in Deutschland praktisch unbekannt. In den USA begannen jedoch Militärhistoriker Anfang der neunziger Jahre, nach jenem geheimnisvollen "german doctor" zu suchen, der in so vielen Schilderungen amerikanischer Soldaten auftauchte. Schließlich spürte die noch heute im Dienst stehende 28. US-Infanteriedivision ihren Feind von damals auf. Sie ehrte ihn 1996 als Gast der Nationalgarde in einer Feierstunde, an der auch der deutsche Botschafter Jürgen Chrobog teilnahm. In der Heimat nahm kaum jemand Notiz davon.
Link zum Artikel Die Welt
Friedhof Berlin Schmargendorf Gedächtnisstätte
Prof. Dr. Günter Stüttgen
◊ 23.01.1919 † 21.10.2003
Arzt, Dermatologe
Günter Stüttgen wurde in Düsseldorf geboren. Er studierte Medizin in Marburg, Frankfurt Düsseldorf und legte 1943 sein Staatsexamen ab. Während des Krieges 1943 – 1945 war er als Militärarzt tätig. Günter Stüttgen durchlief danach eine Ausbildung zum Dermatologen. Von 1969 bis zu seiner Emeritierung 1990 leitete Stüttgen die Dermatologische Klinik im Rudolf-Virchow-Klinikum und hatte außerdem den Lehrstuhl für Dermatologie am gleichen Standort inne.
Als namhafter deutscher Dermatologe und Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin war er ebenfalls Mitglied der Berliner Medizinischen Gesellschaft.
Sein Optimismus und seine Begeisterung für eine gute Sache sowie seine kritische Herangehensweise an bevorstehende Aufgaben waren seine herausragenden Charaktereigenschaften. Dazu kam sein Mut, den er 1944 unter Beweis stellte. Zum Dank und zur Erinnerung an sein beherztes, humanitäres, ärztliches Verhalten während des II. Weltkrieges wurde der Mediziner in den Vereinigten Staaten besonders gewürdigt, weil er durch sein couragiertes Handeln hunderten verletzten Soldaten – ob deutsch oder amerikanisch – geholfen hat. Gemeinsam mit einem amerikanischen Arzt setzte er 3mal eine Waffenruhe durch, die vielen Soldaten das Leben rettete.
Er selbst hat das Erlebte fast 50 Jahre für sich behalten und so ist es in Deutschland bis heute noch unbekannt. In den USA begannen jedoch Militärhistoriker Anfang der Neunziger Jahre nach jenem geheimnisvollen „german doktor“ zu suchen, der in so vielen Schilderungen amerikanischer Soldaten auftauchte.
Seit 1999, anlässlich seines 80. Geburtstages, wird die Günter Stüttgen-Medaille an überragende, international renommierte Dermatologen vergeben. Günter Stüttgen hat zahlreiche wissenschaftliche Werke veröffentlicht.